Rabindranath Tagore

Zitate aus Sadhana


Gott zu sein

Der Westen akzeptierte jenen als Lehrer, der mutig sein Einssein mit seinem Vater verkündete und seine Anhänger ermahnte, so vollkommen wie Gott zu sein. Doch der Westen söhnte sich mit der Vorstellung unserer Einheit mit dem Unendlichen Wesen niemals aus, und jede Andeutung, der Mensch werde zu Gott, wird als Blasphemie verurteilt. Obwohl dies sicherlich nicht das ist, was Christus predigte und auch die christlichen Mystiker wahrscheinlich nicht meinten, scheint es die populäre Vorstellung im christlichen Westen zu sein.

Die höchste Weisheit im Osten beschreibt die Funktion unserer Seele nicht darin, Gott zu gewinnen und ihn für einen besonderen materiellen Zweck nutzbar zu machen. Alles jemals für uns Erreichbare besteht darin, mehr und mehr eins mit ihm zu werden. In der Natur und ihrer Vielheit wachsen wir durch Aneignung, doch in der spirituellen Welt der Einheit, indem wir uns verlieren und vereinen. Wie bereits gesagt, ist sich etwas anzueignen, natürlicherweise auf einen bestimmten Wunsch beschränkt und somit nur teilweise möglich. Doch zu sein ist umfassend. Es gehört zu unserer Ganzheit und entspringt keiner Notwendigkeit, sondern unserer Verbundenheit mit dem Unendlichen, dem Prinzip der Perfektion unserer Seele.

Ja, wir müssen zu Brahma werden und dürfen uns nicht scheuen, dies zu bekennen. Unsere Existenz wäre bedeutungslos, wenn wir niemals erwarten könnten, die höchste Vollkommenheit zu verwirklichen. Ein Ziel zu haben und es nie erreichen zu können, ist überhaupt kein Ziel.


Welt der äußerlichen Ausbreitung

Auf dem großen westlichen Kontinent sehen wir die Seele des Menschen sich hauptsächlich äußerlich ausdehnen. Das weite Feld der Ausübung von Macht ist ihr Gebiet. Ihre Vorliebe gilt allein der Welt äußerlicher Ausbreitung, und sie ignoriert und glaubt kaum an etwas wie inneres Bewusstsein und innere Erfüllung. Es ist so weit gekommen, dass für sie die Vollkommenheit der Erfüllung nirgendwo zu existieren scheint. Ihre Wissenschaft redete ständig von der unendlichen Evolution der Welt, und ihre Metaphysik spricht jetzt von der Evolution Gottes selbst. Sie wollen nicht zugeben, dass er ist; sie wollen, dass auch er wird.

Sie begreifen nicht, dass das Unendliche immer größer als jede zuweisbare Grenze, und gleichzeitig vollkommen ist. Einerseits entwickelt sich Brahma und andererseits ist er Vollkommenheit. Ein Aspekt von ihm ist Essenz, der andere Manifestation – sowie beides gleichzeitig, wie das Lied und das Singen. Das ist so, als ob man das Bewusstsein des Sängers ignorierte und behauptete, es werde bloß gesungen und gäbe kein Lied. Natürlich sind wir uns zu einem bestimmten Zeitpunkt nur des Gesangs bewusst und niemals des Liedes als Ganzes. Doch wissen wir genauso, dass das vollständige Lied in der Seele des Sängers existiert.

Aufgrund dieses Beharrens auf Tun und Werden bemerken wir im Westen den Rausch der Macht. Die Menschen dort scheinen entschlossen, zu plündern und sich alles mit Gewalt anzueignen. Verbissen handeln sie und werden doch niemals fertig. Dem Tod erlauben sie nicht, seinen natürlichen Platz in der Ordnung der Dinge einzunehmen, und die Schönheit der Vollendung kennen sie nicht.


Kannibalismus

In kannibalistischen Ländern betrachtet der Mensch den Menschen als Nahrung. Zivilisationen könnten in solchen Ländern niemals gedeihen, denn dort verliert der Mensch seinen höheren Wert und wird gewöhnlich. Doch es gibt auch andere Arten von Kannibalismus, die vielleicht nicht so grob, aber deshalb nicht weniger abscheulich und auch nicht weit davon entfernt sind. Selbst in zivilisierteren Ländern wird der Menschen manchmal bloß als Körper betrachtet und nur dem Wert seines Fleisches entsprechend auf dem Markt ge- und verkauft; oder sein Wert wird nur nach seiner Brauchbarkeit bemessen. Er wird zu einer Maschine gemacht und von reichen Menschen gehandelt, um ihnen noch mehr Geld zu beschaffen.


Der Wunsch nach Liebe

Der Wunsch nach Liebe ist ein Grad von Unempfindlichkeit. Denn Liebe ist die Vervollkommnung des Bewusstseins. Wir lieben nicht, weil wir nicht begreifen oder begreifen vielmehr nicht, weil wir nicht lieben. Liebe ist die höchste Bedeutung von allem, was uns umgibt, und kein bloßes Gefühl, sondern Wahrheit. Sie ist die Freude am Urgrund der Schöpfung und das weiße Licht des reinen, von Brahma ausgehenden Bewusstseins. Um eins zu werden mit diesem Sarv’ānubhūḥ, diesem allumfassenden Wesen draußen am Himmel und in unserer Seele, müssen wir die Liebe als Gipfel des Bewusstseins erreichen. „Wer könnte atmen oder sich bewegen, wenn der Himmel nicht von der Freude erfüllt wäre, die Liebe ist?“ Erhöhen wir unser Bewusstsein in Liebe und weiten es auf die ganze Welt, können wir Brahma-vihāra, die Kommunion mit dieser unendlichen Freude erreichen.

Sarv’ānubhūḥ (Sanskrit): Alles Wahrnehmende, Allbewusste


Der universelle Geist

… Der universelle Geist wartet darauf, uns mit Glück zu krönen, doch unser individueller Geist würde es nicht akzeptieren. Das selbstorientierte Leben verursacht überall Konflikte und Komplikationen, stört das normale Gleichgewicht der Gesellschaft und führt zu allen Arten von Elend. Es lässt die Dinge sich so entwickeln, dass wir zur Aufrechterhaltung der Ordnung künstliche Zwänge und organisierte Formen der Tyrannei schaffen müssen; wir tolerieren infernalische Institutionen in unserer Mitte, durch die die Menschlichkeit und somit auch die Menschheit in jedem Augenblick gedemütigt wird …


Der uralte Tag

Dieser uralte Tag unserer Erde wird jeden Morgen wiedergeboren und kehrt zurück zum ursprünglichen Refrain seiner Musik. Wäre sein Marsch eine unendliche Gerade und gäbe es keine ehrfürchtige Pause bei seinem Eintauchen in die abgrundtiefe Dunkelheit und keine Wiedergeburt im Leben des endlosen Anfangs, dann würde er die Wahrheit allmählich mit seinem Staub beschmutzen und begraben und unter seinem schweren Tritt unaufhörlichen Schmerz auf der Erde verbreiten. Dann hinterließe jeder Augenblick die Last seiner Müdigkeit und Altersschwäche regierte auf ihrem Thron aus ewigem Schmutz.


Die letzte Wahrheit

m Weltengedicht sind die Entdeckung seiner Rhythmen, das Messen seiner Expansion und Kontraktion, von Bewegung und Ruhe oder die Entwicklung seiner Formen und Charaktere wahre Errungenschaften des Geistes.

Doch wir dürfen es nicht dabei belassen, denn wie in einem Bahnhof ist der Bahnsteig nicht unser Zuhause. Die letzte Wahrheit hat nur der erreicht, für den die ganze Welt eine Schöpfung der Freude ist.


Der vor allem war

Der vor allem war, ist heute noch derselbe. Jeder Ton des Schöpfungsliedes erklingt frisch durch seine Stimme. Das Universum ist kein bloßes Echo, das von Himmel zu Himmel wie ein obdachloser Wanderer widerhallt. Es ist auch kein Echo eines alten Liedes, das einmal am dämmrigen Anfang der Dinge gesungen wurde und dann verwaiste. Jeden Moment entströmt es dem Herzen des Meisters und wird in seinem Atem geatmet.


Zivilisation und Kannibalismus

… Ich wiederhole noch einmal, dass wir kein wirkliches Bild vom Menschen haben können, ohne ihn zu lieben. Zivilisation darf nicht nach ihrer Macht beurteilt und gewürdigt werden, sondern wie sehr sie durch ihre Gesetze und Institutionen die Liebe zum Menschen entwickelt und ausdrückt. Die erste und letzte von ihr zu beantwortende Frage lautet, ob und inwieweit sie den Menschen als Geist oder als Maschine sieht? Wann immer alte Zivilisationen zerfielen und niedergingen, gab es Gründe, die Herzlosigkeit zur Folge hatten und zur Herabsetzung des Wertes des Menschen führten. Sobald der Staat oder mächtige Gruppen begannen, das Volk als bloßes Instrument ihrer Macht zu sehen oder man Schwächere zur Sklaverei zwang und versuchte, sie mit allen Mitteln zu unterdrücken, schlug der Mensch auf das Fundament seiner Größe, seiner Freiheitsliebe und des Fairplay ein. Zivilisation kann niemals auf der Grundlage von Kannibalismus irgendeiner Form bestehen; denn das allein Wahrhaftige im Menschen kann nur durch Liebe und Gerechtigkeit genährt werden … 


Die Freiheit der Saite

… So erfreuen wir uns voll und ganz der Freiheit, wenn wir uns den Begrenzungen der Wahrheit wie eine auf die Harfe gespannte Saite unterwerfen. Nur richtig und ohne geringste Nachlässigkeit gespannt, entsteht Musik; dann findet die in der Melodie über ihre Grenzen hinausschreitende Saite in jedem Akkord ihre wahre Freiheit. Nur weil sie einerseits an harte und feste Regeln gebunden ist, kann sie andererseits diesen Freiraum in der Musik finden. Klingt die Saite nicht richtig, so war sie nicht ausreichend gespannt. Doch ihre Spannung zu lockern, wäre nicht ihr Weg in die Freiheit. Die kann sie nur erreichen, wenn sie fest, bis auf die richtige Tonhöhe gespannt wird …


Der Fisch

… Eines Tages war ich mit einem Boot auf dem Ganges unterwegs. Die Sonne des wunderschönen Herbstabends war gerade untergegangen und die Stille des Himmels mit unbeschreiblichem Frieden und Schönheit erfüllt. Die riesige Wasserfläche zeigte keine Kräuselung und spiegelte alle sich wandelnden Schattierungen des glühenden Sonnenuntergangs wider. Kilometerweit erstreckte sich eine einsame Sandbank wie ein riesiges, vorsintflutliches, amphibisches Reptil, dessen Schuppen in leuchtenden Farben schillerten.

Als unser Boot lautlos am steilen und von den Nisthöhlen einer Vogelkolonie durchsetzen Flussufer entlangglitt, erschien plötzlich ein großer Fisch an der Wasseroberfläche und verschwand wieder. Auf seiner schwindenden Gestalt stellte er alle Farben des Abendhimmels zur Schau und schob für einen Moment die vielfarbige Leinwand beiseite, hinter der sich eine stille Welt voller Lebensfreude verbarg. Mit einer wunderschönen tanzenden Bewegung kam er aus den Tiefen seiner geheimnisvollen Behausung und fügte der stummen Symphonie des sterbenden Tages seine Musik hinzu. Es fühlte sich an, als erhielte ich den freundlichen Gruß einer fremden Welt in der ihr eigenen Sprache, und es berührte mein Herz mit einem Freudenblitz.

Plötzlich rief der Mann am Steuer mit deutlichem Bedauern: „Ah, was für ein großer Fisch!“ – und ließ sofort vor seinen Augen das Bild des gefangenen und für das Abendessen zubereiteten Fischs entstehen. Allein durch die Brille seiner Wünsche konnte er ihn wahrnehmen und damit nicht die ganze Wahrheit seiner Existenz.

Doch der Mensch ist nicht ausschließlich ein Tier. Er strebt nach einer spirituellen Vision der ganzen Wahrheit. Sie bereitet ihm seine größte Freude, denn sie offenbart ihm die tiefste Harmonie zwischen ihm und seiner Umgebung. Unsere Wünsche begrenzen die Verwirklichung unseres Selbst und behindern die Erweiterung unseres Bewusstseins. Sie führen zu Sünde als innerste uns von Gott trennende Barriere, die Uneinigkeit und Arroganz der Exklusivität erschafft. Denn Sünde ist keine bloße Handlung, sondern eine Lebenseinstellung. Sie sieht unser Ziel als endlich und unser Selbst als letzte Wahrheit. Für sie sind wir alle nicht dem Wesen nach eins und jeder existiert individuell für sich …


Die Lampe

… Eine Lampe hält ihr Öl sicher in engem Griff und bewahrt es vor dem geringsten Verlust. Damit ist sie von allen anderen Objekten um sie herum getrennt und geizig. Doch entzündet, findet sie sofort ihre Bedeutung. Nah und fern wird ihr Bezug zu allen Dingen hergestellt, und ihren Vorrat an Öl opfert sie aus freien Stücken, um die Flamme zu nähren …


Innere und äußere Natur

… Wie beschäftigt unsere aktive Natur nach außen hin auch sein mag, sie hat eine geheime Kammer im Herzen, in der sie frei und ohne irgendeine Gestalt kommt und geht. Dort wandelt sich das Feuer ihrer Werkstatt in die Lampen eines Festivals und der Lärm ihrer Fabrik in Musik. Die eiserne Kette von Ursache und Wirkung klingt draußen in der Natur schwer, aber im menschlichen Herzen wie die goldenen Saiten einer Harfe in ungetrübter Freude …


Pessimismus

Pessimismus ist eine Form geistiger Trunksucht und verschmäht gesunde Nahrung.